Was gesagt werden muss

Was soll man sagen, wenn Menschen, die sich selbst als „progressiv“ oder als „links“ bezeichnen, das Massaker der Hamas in Israel nicht verurteilen, sondern gutheißen?

„Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: ‚Das hat doch niemand gewollt!“
Diese Worte stammen von Christine Nöstlinger – aus ihrer Rede im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen.

Wie schreibt man weiter nach einem Zivilisationsbruch? 

Was schreibt man, wenn es so viel zu sagen gibt, wenn sehr Vieles sehr dringend gesagt werden muss, aber einen die Sprachlosigkeit einholt?

Wozu sollen Worte überhaupt noch gut sein, nachdem eine islamistische Terrormiliz das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust verübt hat? Was sagt man, wenn das, was mit „niemals wieder“ gemeint war, plötzlich Realität und Gegenwart ist?

Was sagt man, wenn Männer, berauscht von Hass, berauscht von einer faschistischen Ideologie und gedoped mit Captagon, massenmorden, massenvergewaltigen, foltern, Menschen bei lebendigem Leibe verstümmeln und verbrennen, Babys enthaupten, Holocaustüberlebende entführen?

Was sagt man, wenn die Unmenschlichkeit in einer Weise losbricht, die nicht in Worte zu fassen ist?

Was sagt man, wenn junge Frauen inmitten der Leichen ihrer Freundi:nnen vergewaltigt werden? Und wenn andere junge Frauen in Harvard und Stanford, in Berlin oder in Wien diese Form der sexualisierten Folter an Frauen, die sie selbst hätten sein können, feiern, in offenen Briefen, in Instagram-Posts und auf den Straßen europäischer Städte. Als dekolonialistischen Befreiungskampf.

Wenn Menschen sich unter Leichen von Freundinnen und Freunden totstellen, um nicht getötet zu werden?

Was soll man überhaupt sagen und in welchen Worten, wenn Menschen, die sich selbst als „progressiv“ oder als „links“ bezeichnen, wenn Menschen, die sich selbst als Antifaschist:innen verstehen (was lustig wäre, wäre es nicht so unfassbar tragisch), dieses Massaker, dieses Pogrom, diesen unbeschreiblichen Ausbruch an Unmenschlichkeit, nicht verurteilen, sondern gutheißen. Was sagt man, wenn antisemitischer Hass wieder losbricht, ungezügelt? Auf Social Media, auf amerikanischen Campi, in den Straßen Europas?

Wenn jüdische Freund:innen in europäischen Städten (wieder) Angst haben, wenn Synagogen angegriffen und ihre Wohnungen mit Davidsternen markiert werden?

Wenn die Zivilisationshaut so weit aufgerissen wurde, dass keine Ansammlung von Wörtern auf dieser Welt als Pflaster reichen könnte?

Was gesagt werden muss:

Nach dem 7. Oktober 2023 wird nichts mehr sein, wie es davor war.

Was auch gesagt werden muss:

Wer über #metoo tweetet, dem aber nichts so recht einfallen mag, wenn Jüdinnen massenvergewaltigt werden, weil sie Jüdinnen sind, wer über Femizide schreibt, aber die Ermordung von Jüdinnen nicht so recht zu verurteilen vermag, der offenbart seinen Aktivismus als reine Performance. Als opportunistische Performance für Applaus aus der eigenen Bubble auf Social Media.

Die Hamas sind keine Freiheitskämpfer

Was gesagt werden muss und das in aller Deutlichkeit:

Die Hamas sind keine Freiheitskämpfer, ihr erklärtes Ziel ist die Elimination aller Juden und die Zerstörung Israels. Wer das nicht glaubt, sollte in ihrer Gründungscharta nachlesen. Nicht nur Judenhass, sondern auch brachialer Frauenhass und Homofeindlichkeit sind zentrale Kernelemente ihrer Ideologie.

Die Hamas ist außerdem bestens finanziert – unter anderem durch das Regime im Iran.

Die Hamas entzieht ihrer eigenen Bevölkerung humanitäre Hilfe, um aus diesen humanitären Hilfsgütern Kriegsmunition zu basteln, um Menschen abzuschlachten, in Israel und in Gaza. Indem sie beispielsweise Wasserrohre, die für die Wasserversorgung dieser Bevölkerung geliefert wurden, in Raketen umfunktioniert.

Die Hamas hat in ihrem antisemitischen Eliminationswahn nicht nur ein Massaker an 1.500 Jüdinnen und Juden verübt, sondern verübt aktuell eines an der eigenen Bevölkerung, die sie als Schutzschilder missbraucht. Die Hamas stationiert strategisch Munition, Militärstützpunkte unmittelbar bei Krankenhäusern, Schulen und anderen zivilen Einrichtungen. Die Ermordung möglichst vieler Zivilist:innen und das resultierende Framing von Juden als „Kindermörder“ (eine alte antisemitische Erzählung) ist Teil ihres Propagandakrieges gegen Israel.

Die Hamas versteht es meisterhaft, Wahrheiten zu verdrehen und sich aus Tätern zu Opfern zu stilisieren, mithilfe der nützlichen Idioten im Westen, die in klassischen und sozialen Medien ihre Lügen übernehmen.

Die Hamas baut ihre Strategie auf den Antisemitismus des Westens

Es ist schwer, noch Worte zu finden, wenn Medien wie die New York Times in Minutenschnelle Hamas-Propaganda über Push-Notifications in die Welt und auf Millionen Mobiltelefone sendet. (Ihr erinnert euch an das angeblich von Israel zerbombte Krankenhaus, das nie zerbombt wurde?) Und die Berichtigung dann nur von den wenigsten gelesen wird, denn, wenn eine Lüge erst in der Welt ist, ist sie aus dieser Welt auch nicht mehr hinauszukriegen. Vor allem, wenn es eine Lüge über Juden ist. „Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden“ schrieb der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno. Antisemitismus ist auch die Lüge über den Juden, die Verschwörungserzählung über den Juden. Und wir im Westen, wir schlingen die Lüge hinunter, denn 75 Jahre mussten wir so tun, als wären wir geläutert und als hätten wir ihn exorziert, den Judenhass. Wie gierig wir darauf gewartet haben, ihn wieder hinunterzuschlingen und dann unverdaut hinauszukotzen in unsere Social Media Feeds. Es macht sprachlos.

Was aber gesagt werden muss, ist, dass die Propaganda der Hamas deshalb so aufgeht, so erfolgreich ist, weil der Antisemitismus des Westens Teil ihrer Strategie ist.

Wir haben kollektiv versagt 

Was gesagt werden muss:

Dass Antisemitismus auch 75 Jahre nach dem Holocaust immer noch nicht verstanden wird. Dass offenkundig gedacht wird, er sei „wie Rassismus“ oder eine Art von Rassismus oder einfach eine negative Meinung oder diskriminatorische Haltung gegenüber dem jüdischen Volk. Dass Antisemitismus aber viel eher eine Verschwörungserzählung über einen als übermächtig und böse imaginierten Gegner zu verstehen ist. Dass Antizionismus, in Form der Imagination von Israel als Kolonialmacht oder Apartheitsstaat etwa, eine Spielart genau dieser Verschwörungserzählung ist. Dass wir, wenn Antisemitismus 75 Jahre nach dem Holocaust immer noch nicht verstanden wird, kollektiv versagt haben.

Was man auch sagen muss: Dass, und das zeigt sich auch im gegenwärtigen Moment, Judenhass und Frauenhass ideologische Brüder sind. Schwulenhass ist der dritte Bruder. Dass auch das viel zu wenig verstanden wird.

Dass auch hier Frauen besonders leiden unter dem Blutrausch von Männern. Dass immer wieder, auch hier, Kriege auf den Körpern von Frauen ausgetragen werden.

Was soll man sagen und in welchen Worten, wenn Professoren an Elite-Unis diesen antisemitischen Terror als „exhilarating“, also als „berauschend“, und als „energizing“, also „energetisierend“, bezeichnen, sich sichtlich und laut über ein Pogrom freuen? Was soll man zu den zahlreichen Social-Media-Aktivist:innen im deutschsprachigen und englischsprachigen Raum auf Instagram und TikTok sagen, die der Meinung waren, dass ein unvergleichliches Massaker mit „This is what decolonization looks like“ zusammengefasst werden kann. Oder zu jenen Influencerinnen, die keine zwei Sekunden Zeit hatten, das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Zweiten Weltkrieg zu verurteilen, aber nach einem kurzen Satz, dass Antisemitismus eh voll schlimm sei, viele Sekunden Zeit hatten, für „ja, aber Israel ist sehr böse“, gespickt mit Hamas-Propagandasprache. Vor zigtausenden, hunderttausenden Menschen, die ihnen zujubelten, likten und teilten. Viele darunter, die man bis vor Kurzem für vernünftig hielt.
Da war noch so viel mehr Unbeschreibliches: der unsägliche Post von Greta Thunberg. Der von Black Lives Matter. Da waren die Briefe von amerikanischen Unis.

All das muss man sagen. All das muss man beschreiben. Über all das muss man schreiben, gegen all das muss man schreiben, immer und immer wieder, auch wenn die Worte immer und immer wieder ausgehen.

Es geht um Massenvergewaltigungen

Was soll man aber sagen und mit welchen Worten, wenn Frauen, manche von ihnen eigentlich noch Teenager, eigentlich noch Kinder, Blut zwischen den Beinen hinunterrinnt, wenn sie mit riesigen Blutflecken auf dem Hosenboden und völlig verstörtem, verlorenem Gesichtsausdruck durch Straßen getrieben werden und man nicht wissen müssen möchte, was man eigentlich weiß, nämlich dass das Blut das Ergebnis von brutalsten Massenvergewaltigungen ist. Wenn dann Politfluencerinnen in Wien, Politfluencerinnen, die noch vor ein paar Tagen irgendetwas mit #metoo und von Täter-Opfer-Umkehr in ihren Insta-Stories hatten, dieselben Politfluencerinnen, die tapfere Kämpfe gegen fettfeindliche Flugzeugsitze ausfechten und gegen cultural appropriation durch falsch verwendete Emojis, wenn diese Politfluencerinnen dann diesen Frauen und allen anderen, die zusehen, ausrichten, dass sie diese brutale Gewalt völlig zurecht trifft.
Was soll man sagen, wenn Menschen, die den Holocaust überlebt haben, 75 Jahre später verfolgt, gekidnappt, vertrieben, ermordet werden? Und die Nachkommen der Täter des Holocausts auf den Straßen von Berlin „Free Palestine from German guilt“ schreien.

Was soll man noch und in welchen Worten sagen angesichts dieser Verrohung, dieser Unmenschlichkeit?

Es gibt keine Worte in der deutschen Sprache, die groß und absolut genug wären, um diese Abgründe zu beschreiben.

Nichts davon werden wir vergessen

Was man aber trotzdem sagen muss:

Nichts davon werden wir vergessen. Wir werden eure „This is decolonization“- Posts nicht vergessen. Es wird nie wieder ein Wir geben mit euch. Es gibt keinen Weg zurück von hier. Ihr habt selbst, mit Hafermilch-Lattes in der einen und dem Smartphone in der anderen Hand, ohne Not, von euren beheizten Altbauwohnungen aus, mit euren pastellfarbenen Insta-Slides und euren verblödeten Slogans jeden zivilisatorischen Rahmen verlassen.

Ihr macht mich fassungslos.

Die Grenzenlosigkeit eurer moralischen Verwahrlosung ist nicht zu fassen. Die eurer Dummheit auch nicht.

Was man auch sagen muss:

Nichts davon ist ein Zufall.

Die Unfähigkeit der postmodernen Linken, Antisemitismus zu erkennen oder sich von ihm abzugrenzen, ist kein Zufall und kein Unfall, da sie selbst strukturell antisemitisch ist.

Es ist kein Zufall und kein Unfall, dass Judith Butler die Mörderbanden der Hamas und der Hisbollah schon 2006 als Teil der „progressiven Linken“ bezeichnete. Es ist kein Zufall und kein Unfall, wie Antisemitismus aktuell in Form von vulgär-postkolonialistischem Antizionismus hervorbricht, der Jüdinnen und Juden zu kolonialistischen weißen Unterdrückern umdeutet.

All das hat mit dem ideologischen Überbau aktueller postmoderner social-justice-Bewegungen zu tun. Mit Theorien und Pseudotheorien und Glaubensinhalten, die sich als progressiv verkaufen und sich das zu allem Überdruss auch selbst glauben, aber zutiefst regressiv, antiemanzipatorisch und autoritär sind. All das wird jetzt sichtbarer als je zuvor.

Was gesagt werden muss:

Dass es notwendig ist, genau hinzusehen, welche Ideologien es sind, die ihre Anhänger:innen dazu bringen, Massenmord an Jüdinnen und Juden zu feiern oder die es ihnen nicht möglich machen, diesen klar zu verurteilen.

Gefährliche Ideologien

Ideologien, die ihre Anhänger:innen dazu bringen, Massenmord zu feiern oder die es ihnen unmöglich macht, ihn zu verurteilen, sind gefährliche Ideologien.

Was gesagt werden muss:
Dass dieser ideologische Überbau eine unheilige Allianz eingeht mit der Memefizierung von Politik. Dass es ganze Generationen gibt, die nichts über den sogenannten Nahost-Konflikt wissen als #freepalestine als Meme.

In den letzten Jahren wurde linker, auch feministischer Aktivismus auf allen Fronten in allen Themenbereichen auf eine Art und Weise instasharepicverblödet und veroberflächlicht, dass er in weiten Teilen zu inkohärentem und inhärent widersprüchlichem Geschwurbel wurde. Slogans auf pastellfarbigen Info-Slides und die gleichzeitige Anspruchshaltung, dass sie nun auf Kommando alle unreflektiert mitzugrölen haben, ist alles, was man an Inhalt zustande bringt. Völlige Abwesenheit jedweder kritischen Denkfähigkeit, verbunden mit #isupportthecurrentthing-Mitläufertum (egal, was dieses current thing ist), wurde zum Inbegriff des linken Aktivismus. Und im Notfall faschiert man und vermengt man alles, bis unten nur mehr Scheiße rauskommt.

Postmoderne Verblödung 

Den Gipfel dieser Form der postmodernen Verblödung bildeten wohl jene Frauen auf einer antisemitischen Pro-Hamas-Demo in Berlin, die dort doch tatsächlich „Jin, Jiyan, Azadî,“ skandierten, den Ruf der feministischen Widerstandsbewegung gegen das iranische Regime. Jenes Regime, das einer der wesentlichsten Geldgeber und Verbündeten der Hamas ist.

Dann tauchte aber noch ein anderer Gipfel auf, nämlich jener der Demonstrant:innen auf einer anderen Demo in Berlin, die dort allen Ernstes „Free Palestine from German guilt“ schrien, nahtlos anschließend an die rechtsextreme Schuldkult-Rhetorik. Sie, die Annikas, Stefans und Sabines, deren Großeltern diese „german guilt“, diese deutsche Schuld, überhaupt erst zu verantworten haben.

Es ist offenbar ein ganzes Gebirge an moralischer Verwahrlosung, Antisemitismus und Dummheit und jedes Mal, wenn man glaubt, man hat das Schlimmste gesehen, taucht ein neuer Gipfel auf.

All das muss gesagt werden, von Menschen, die es, anders als ich, vermögen, durch die eigene Fassungslosigkeit durchzuschreiben.

Und dann muss noch viel mehr gesagt werden, von Menschen, die das besser können als ich. Und besser sortiert.

Aber das möchte ich noch sagen:

Viele der Nachrichten, die ich in den letzten Tagen von Freund:innen erhalten habe, klingen nach. Von „Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Pogrom miterleben werde“ über „Die Leute wissen nicht, was sie anrichten und wie sehr wir Angst haben“ über viele verschiedene Varianten von „Wie soll man sich mit Menschen einen Planeten teilen, die zu so einer Verrohung imstande sind“ und „ich bin fassungslos“ bis hin zu „Wir dürfen uns den Universalismus nicht nehmen lassen“.

Wir dürfen uns den Universalismus nicht nehmen lassen.

Wir dürfen uns den Humanismus nicht nehmen lassen von der Verrohung.

Wir dürfen uns die Wahrheit nicht nehmen lassen von der Lüge. Auch nicht von der Auslassung oder von der Halbwahrheit. Oder von der ideologischen Verdrehung.

Wir dürfen uns das Rückgrat nicht nehmen lassen, das es braucht, um die Wahrheit auszusprechen.

Wir dürfen uns die Freiheit nicht nehmen lassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Zivilisationshaut noch weiter aufreißt.

Niemals wieder dürfen wir das. Nie wieder.